Ich erzähle dir ja oft von meinen Projekten, wie ich an sie herangehe, wie ich vorankomme und wie es mir dabei geht. Aber ab und zu mache ich auch andere Sachen. Dann höre ich von Kollegen, dass ihnen etwas an ihren Projekten Probleme bereitet, und ich versuche zu helfen. Jetzt bin ich definitiv völlig unbegabt, was das Lektorieren angeht. Es genügt, um meine Geschichten zu einem Text zu formen, den ich mich traue, den Verlagen zu schicken, aber ich würde niemals meine Dienste als Lektorin anbieten. Ich bin aber eine erfahrene Vielleserin und manchmal genügt genau das. Nämlich in den Fällen, wenn meine Kollegen aus irgendeinem Grund mit ihren Texten unsicher sind. Das kann aus verschiedenen Gründen geschehen und ist unabhängig vom Grad der Erfahrung. Ich bin zum Beispiel bei meinen Kurzgeschichten oft unsicher, ob sie wirklich das Thema treffen oder knapp daran vorbeirutschen. Auch die Frage, ob meine Geschichten, egal ob Roman oder Kurzgeschichte, spannend sind, treibt mich häufig um. Das ist ein unangenehmes Gefühl, das mir mein Mann zumindest teilweise nehmen kann, wenn er gerade diese Geschichten liest und mir seine Meinung sagt. Dasselbe tue ich oft für meine Kollegen. Sowas braucht man manchmal einfach und ich gebe es gerne. Ich bilde mir nämlich ein, dass ich das gut kann.
Seit Mitte April sitze ich wieder an einem solchen „Problemprojekt“. Es ist ein schönes, dickes Ding, Fantasy, aber nicht unbedingt das, was ich normalerweise kaufen würde. Geschmacksache. Die Autorin des Romans ist der Meinung, die Geschichte sei zu düster und deshalb eher unverkäuflich. Sie wirkte bei dieser Aussage sehr geknickt auf mich, weil sie diese Geschichte sehr mag. Aus dem Grund habe ich ihr angeboten, den Roman zu lesen, auch wenn er nicht ganz in mein Beuteschema passt. Ich kann ja trotzdem objektiv sagen, was ich davon halte, und ihr damit vielleicht ihre Sorgen nehmen. Obwohl wir uns noch nicht so lange kennen, hat sie mir ihr Baby anvertraut. Seitdem lese ich neben meinen eigenen Projekten ihr Manuskript, habe aber erst ein gutes Fünftel davon geschafft. Die Zeit …! Bisher mag ich ihre Geschichte und das habe ich ihr letzte Woche in einem Zwischenbericht geschrieben. Ich weiß ja, wie es ist, wenn man auf etwas wartet. Da ich schon über einen Monat daran sitze und ich sie nicht im Ungewissen lassen wollte (In solche Situationen würde ich mich schon langsam fragen, ob der Leser nicht längst stillschweigend abgebrochen hat, oder – noch schlimmer – nur an mein Manuskript wollte.), habe ich ihr extra eine Mail geschickt. Sie schrieb, dass es noch dunkler werden wird. Ganz ehrlich, ihr Schreibstil ist super und bisher mag ich ihre Ideen, die zu dieser Geschichte geführt haben. Ich kann mir fast nicht vorstellen, dass mich ihr Roman plötzlich abschreckt, nur weil er düster wird. Aber um das mit Sicherheit sagen zu können, muss ich weiterlesen. Ich bin auch neugierig, was sie mit düster genau meint.
Es gibt Autoren, die aus Prinzip die Texte anderer nicht lesen. Es kann auch kritisch werden, wenn man selbst dann ein paar Jahre später etwas veröffentlicht, das irgendwo Ähnlichkeiten aufweist, egal wie klein sie sein sollten. Da ist es ein Vorteil, dass diese Geschichte sich sehr von dem unterscheidet, das ich schreibe. Aber solange ich die Zeit dazu finde, auch mal jemandem zu helfen, tue ich es gerne. Ich kann daraus lernen, bin eine der ersten, die die Geschichte lesen darf, und helfe vielleicht sogar entscheidend dabei, dass der Autor dem Roman doch noch eine Chance gibt. Es tut mir gut, zu helfen, und im Idealfall tut diese Hilfe einem Kollegen gut. Ich finde, dass das Ergebnis jeder unserer Handlungen am Ende so aussehen sollte.